Neue Prüfungsformen

Das Berufsbildungsgesetz und die Handwerksordnung sehen für anerkannte Ausbildungsberufe die Durchführung einer Abschluss- bzw. im Handwerk einer Gesellenprüfung vor (§ 37 Abs. 1 BBiG, § 31 Abs.1 HwO). „Durch die Abschlussprüfung ist festzustellen, ob der Prüfling die berufliche Handlungsfähigkeit erworben hat. In ihr soll der Prüfling nachweisen, dass er die erforderlichen beruflichen Fertigkeiten beherrscht, die notwendigen beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt und mit dem im Berufsschulunterricht zu vermittelnden, für die Berufsausbildung wesentlichen Lehrstoff vertraut ist.“ (§ 38 BBIG, § 32 HwO). Anstelle der üblichen Einteilung in Zwischen- und Abschlussprüfung wird seit 2002 in zeitlich bis 2007 befristeten Erprobungsverordnungen in ausgewählten Berufen mit der gestreckten Abschluss- bzw. Gesellenprüfung eine neue Prüfungsstruktur etabliert.

Seit der Reform des BBiG im Jahre 2005 ist auch in regulären Ausbildungsordnungen eine „Abschlussprüfung in zwei zeitlich auseinander fallenden Teilen“ möglich, bzw. bei Neuordnungen ist zu prüfen, ob dieses Modell Anwendung finden kann (§5 BBiG). Die Erprobungsverordnungen wurden für die industriellen Elektroberufen und den Kfz-Mechatroniker 2007 aufgehoben, die gestreckte Abschlussprüfung durch Änderung der regulären Ausbildungsordnungen als einzige Prüfungsstruktur vorgeschrieben. Die anderen Berufe mit Erprobungsverordnungen wurden 2008 bzw. 2009 überführt. Seit 2009 wird die gestreckte Abschlussprüfung nicht mehr nur in gewerblich-technischen sondern auch in kaufmännischen Ausbildungsberufen erprobt.

Die Abschlussprüfung wird dabei über zwei Teile „gestreckt“. Statt einer eigenständigen Zwischenprüfung, die für die Abschlussnote keine Relevanz hat, wird ein erster Teil der Abschlussprüfung bis spätestens zum Ende des zweiten Ausbildungsjahres durchgeführt. Das erreichte Ergebnis fließt je nach Ausbildungsordnung mit einer Gewichtung von 20 bis 40 Prozent in das Gesamtergebnis der Abschlussprüfung ein. Der erste Prüfungsteil kann nicht eigenständig wiederholt werden, da er ein Teil der Gesamtprüfung ist. Mangelhafte Leistungen müssen mit dem zweiten Prüfungsteil ausgeglichen werden. Über seine Leistungen im Teil 1 der Prüfung wird der Auszubildende informiert.

Inhaltlich werden im ersten Teil der Abschlussprüfung bevorzugt solche Kompetenzen geprüft, die ein Auszubildender nach anderthalb Jahren Ausbildungszeit bereits abschließend erwerben kann. Im Fall der erprobten Ausbildungsberufe waren dies die eher handwerklichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten. Diese Kernkompetenzen werden dann im zweiten Teil nicht erneut bzw. auf einem höheren Komplexitätsgrad geprüft.
Der zweite Teil der Prüfung erfolgt am Ende der Ausbildungszeit, äquivalent zur bisherigen Abschlussprüfung. Das Gesamtergebnis der Abschlussprüfung setzt sich aus den Ergebnissen der beiden Teilprüfungen zusammen.

Als Prüfungsformen kommen sowohl im ersten als auch im zweiten Teil praktische Arbeitsaufgaben an entsprechenden Prüfstationen, umfangreiche betriebliche Arbeitsaufträge, schriftliche Dokumentationen der Durchführung, teilweise in die Ausführung der Arbeitsaufträge integrierte Fachgespräche und schriftliche Aufgaben zum Tragen. Während früher mehr Faktenwissen gefordert war, geht es heute mehr um aus dem Arbeitsprozess der Arbeitsaufträge abgeleitete Kompetenzen. Die Prüfung ist praxisnäher geworden, die Auszubildenden müssen Zusammenhangsdenken zeigen, selbstständig Entscheidungen treffen und argumentieren können.

Bei der Einführung der gestreckten Abschlussprüfung stellte sich die Frage, ob durch eine gestreckte Abschlussprüfung Lernanreize während der Ausbildung geschaffen werden und sich Prüfungsrisiken und Vorbereitungsaufwand besser verteilen. Teilprüfungen, deren Ergebnisse auf Abschlussprüfungen angerechnet werden, könnten für kontinuierliche Rückmeldungen sorgen und helfen, Entwicklungspotentiale aufzuzeigen. Ebbinghaus (2005:7) spricht von einem „entwicklungsbegleitendem Prüfen“. Euler (2011:63) merkt an, dass „Prüfungen im Hinblick auf die kompetenzkonstituierenden Merkmale der Situationsflexibilität und -stabilität noch zu sehr auf einen singulären Prüfungszeitpunkt ausgerichtet“ sind und fordert „die Feststellung von beruflichen Handlungskompetenzen über einen längeren Zeitraum und mit unterschiedlichen Instrumenten an verschiedenen Lernorten“ – auch über gestreckte Abschlussprüfungen hinausgehend.

Die Umsetzung der gestreckten Abschlussprüfungen in den Erprobungsverordnungen wurde vom BiBB für die verschiedenen Berufsfelder evaluiert (Auswahl in der Literatur). Insgesamt ließ sich eine positive Resonanz seitens der beteiligten Akteure, insbesondere auch der Auszubildenden über die neue Prüfungsform feststellen.

Positive Einschätzungen:

  • besserer Bezug zur beruflichen Praxis
  • Erhöhung der Lernmotivation bei den Auszubildenden
  • zeitlicher Gleichlauf zwischen betrieblicher und schulischer Vermittlung
  • angemessenes Anforderungsniveau

Negative Einschätzungen:

  • höherer Zeitaufwand
  • höherer organisatorischer Aufwand

Bertram, Bärbel; Schild, Barbara-Christine „Evaluation der Erprobung eines Modells einer gestreckten Gesellen-/ Abschlussprüfung in fünf fahrzeugtechnischen Berufen“ URL: www.bibb.de/…
Ebbinghaus, Margit (2005) „Stand und Perspektiven bei beruflichen Prüfungen – Ansätze zur Reform des Prüfungswesens in der dualen Ausbildung“ in: bwp@ Nr. 8 URL: www.bwpat.de/…
Euler, Dieter (2011) „Kompetenzorientiert prüfen – eine hilfreiche Vision?“ in: Severing, Eckart; Weiß, Reinhold „Prüfungen und Zertifizierungen in der beruflichen Bildung“ URL: www.kibb.de/…
Schenk, Harald; Götte, Sebastian (2008) „Evaluation der Erprobung des Modells einer gestreckten Abschluss-/ Gesellenprüfung in Elektroberufen“ URL: www.bibb.de/…
Stöhr, Andreas; Kuppe, Anna Maria (2008) „Evaluation der Gestreckten Gesellenprüfung in den handwerklichen Metallberufen Feinwerkmechaniker/-in und Metallbauer/-in“ URL: www.bibb.de/…
Umsetzungsbeispiele in „lernen & lehren“ Heft 104 URL: www.lernenundlehren.de/…

Von Jan Quast

Ich bin Berufsschullehrer mit dem Schwer­punkt Netzwerk­technik am OSZ IMT in Berlin. Auch zu finden auf Xing